Appeasement gegenüber neo-osmanischen Entwicklungen
Es hat sich mittlerweile zu einer Selbstverständlichkeit unter den führenden Großmächten und europäischen Staaten entwickelt, wegzuschauen, wenn die Türkei wieder im Begriff ist den Bogen zu überspannen. Die Taktik der Appeasement-Politik ist dennoch keine Neuheit in der europäischen Außenpolitik. Historisch ist der Begriff symbolisch für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, als Großbritannien und Frankreich die aggressive Expansionspolitik der Deutschen tolerierten. Bis sie letztendlich selbst von der deutschen Militärmaschinerie betroffen wurden.
Die türkische Außenpolitik, einst ein fester Bestandteil der westlichen Allianz, spaltet seit der Neuausrichtung der türkischen Außenpolitik die Gemüter Europas. Die Außenpolitik des „kranken Mannes am Bosporus“ wird seit Erdogan durch einen verstärkten Nationalismus und einen Rückgang in islamistische Tendenzen ergänzt. Galt die Türkei im letzten Jahrhundert noch – zumindest gesellschaftspolitisch als eines der modernen muslimischen Länder – erstickt es heute im neubelebten Neo-Osmanismus und Pan-Turkismus. Vor allem seit der schwächelnden Wirtschaft und der innenpolitischen Instabilität nutzen türkische Machthaber immer stärker außenpolitische Instrumente, um einerseits von internen Problemen abzulenken und zum anderen die Gesellschaft hinter sich zu konsolidieren.
Ethnische Konflikte werden wieder stärker entfacht. Gleichzeitig konstruiert sich die moderne Türkei eine Geschichte wie aus dem Baukasten. Um zurück zur Außenpolitik zu kommen: Noch nie zuvor in der modernen Geschichte des Landes hatte die Türkei eine dermaßen klare, nationalistische und mit Symbolpolitik geprägte Rhetorik. Eine Symbolik wie etwa bei der Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee. Eine Symbolik, die den modernen Zeitgeist der türkischen Politik widerspiegelt. Die Aussagen führender türkischer Führer gleichen dabei einem Dauerwahlkampf um die Stimmen der konservativen AKP und nationalistischen MHP Wähler. Mit den liberalen Kräften innerhalb des Landes hat die Führung ein zerrüttetes Verhältnis, also muss sie die Gunst der MHP, einer ultranationalistischen Partei gewinnen. Das führt nicht zuletzt dazu, dass die jahrelang rechtsextreme Agitation der Grauen Wölfe sich immer mehr in Aussagen führender Politiker wiederfindet.
Neo-Expansionismus: Die Kombination von Nationalismus und islamistischen Entwicklungen
Die Konstante der türkischen Sicherheitspolitik ist seit jeher die Kurdenproblematik. Die Errichtung einer kurdischen Dominanz in der Region ist für die Türkei in jedem Fall zu unterbinden gewesen. Dass die Türkei zu allem bereit ist, wenn es um die Kurdenproblematik geht, wissen wir. Und auch sonst hat die Türkei eine reiche Geschichtsefahrung an Verfolgung und Tötung von ethnischen Minderheiten. In der modernen Politik scheut sich die Türkei weder innenpolitisch gegen Kurden, kurdische Politiker, Bürgermeister vorzugehen noch außenpolitisch Druck auszuüben. Die Verhaftung der kurdenfreundlichen HDP-Partei ist nur ein Aspekt davon. Auch außenpolitisch und vor allem militärisch scheut sich die Türkei nicht gegen Kurden vorzugehen. Wie wichtig es ihr dabei ist, sieht man, dass sie sogar den völkerrechtswidrigen Einmarsch in Syrien in Kauf nimmt oder etwa den irakischen Nachbarn mit Militäreingriff droht.
Nämlich der Neo-Osmanismus, der sich verstärkt auf den Nahen Osten und teilweise Balkan konzentriert und der Pan-Turkismus, der sich eher an den Kaukasus und Zentralasien orientiert.
Doch neben der kurdischen Konstante hat sich vor allem seit dem Ende des Kalten Krieges und vor allem seit der Amtseinführung Erdogans eine Kehrtwende und eine Radikalisierung etabliert. War die Türkei bis zum Ende des Kalten Krieges als sowjetischer Grenznachbar noch ein klarer Bestandteil der westlichen Allianz, ist das Verhältnis zu den Großmächten heute viel opportuner geworden. Denn seit dem Ende des Kalten Krieges haben sich vor allem zwei Dinge verändert: Zum einen der Wegfall des Hegemons an den Grenzen der Türkei, der die türkische Expansionspolitik einschränkte. Zum anderen sind durch den Zerfall der Sowjetunion fünf unabhängige turksprachige Staaten entstanden – nämlich Aserbaidschan, Kirgistan, Usbekistan, Kasachstan und Turkmenistan. Das befeuert vor allem die nationalistischen Elemente innerhalb der Türkei, die in den letzten Jahren immer mehr an Gehör finden. Zwei türkisch-nationalistische Konzepte, die unterschiedliche Regionen der Welt ansprechen, werden teilweisen parallel von den Nationalisten und auch der führenden Partei bedient: Nämlich der Neo-Osmanismus, der sich verstärkt auf den Nahen Osten und teilweise Balkan konzentriert und der Pan-Turkismus, der sich eher an den Kaukasus und Zentralasien orientiert.
Der Einmarsch in Nordsyrien, die Drohgebärde gegenüber dem Irak sind nur ein Teilaspekt davon. Denn die Türkei wendet sich auch verstärkt gegen einen NATO-Partner, nämlich Griechenland. Die überaus angespannte Situation zwischen Griechenland, Zypern einerseits und der Türkei andererseits nutzt die Türkei aufgrund des Stillschweigens europäischer Partner, aber auch Russlands und den USA gekonnt aus. Etwa durch die Verletzung der zypriotischen Gewässer, um dort Ölbohrungen in Angriff zu nehmen. Oder etwa den täglichen Luftraumverletzungen gegenüber Griechenland und dem offenen und ungenierten Anspruch auf griechisches Territorium. Durch eine zweideutige Allianzpolitik versucht die Türkei etwa in Libyen Fuß zu fassen – und das ohne jegliche Reaktion der Weltgemeinschaft.
Im Kaukasus verfolgt die Türkei ein Ziel, dass der türkische Machthaber nur wenige Tage zuvor öffentlich aussprach: „Die Vollendung der Mission der Großväter.“. In anderen Worten zeigt die Türkei nicht nur in Wort, sondern auch mit Handlungen eine konsequent anti-armenisch abgestimmte Politik im Kaukasus. Ankara bekennt sich nicht nur offen zu Aserbaidschan, sondern unterstützt die Autokratie am Kaspischen Meer auch offen mit Waffen. Die türkische Außenpolitik im Kaukasus richtet sich danach aus die armenische Präsenz zu schwächen, im Idealfall zu beseitigen. Die Türkei kann es sich natürlich nicht erlauben, eine offene Konfrontation zu provozieren – dazu gibt es zu viele Gegenspieler im Kaukasus.
Eine Gratwanderung: Zwischen Appeasement und Konfrontation
Auch gibt es für die Türkei nicht den einst klar definierten außenpolitischen Kontrahenten, vor dem man sich zu schützen hatte – nämlich die Sowjetunion. Dadurch entfällt auch die türkische Abhängigkeit von der NATO, vor allem dann, wenn Ankara zwischen Moskau und Washington manövriert. Trotz beachtlicher außenpolitisch und militärischer Aktivität dulden viele regionale und globale Player die türkischen Vorstöße. Viel zu wichtig ist die Türkei für beide Seiten. Sowohl für Russland einerseits als auch die USA und ost- sowie nordeuropäische Staaten ist die Türkei ein viel zu wichtiger strategischer Partner. Die Türkei markiert den Übergang zwischen der westlichen und russischen Einflusssphäre aber auch zwischen dem Orient und Okzident. Die Türkei ist geografisch sehr wichtig und stellt zahlenmäßig nach USA die zweitgrößte Armee innerhalb der NATO.
Das Manövrieren zwischen Washington und Moskau kann sich die Türkei auch nur deswegen erlauben, weil beide Seiten ein Interesse am Land haben. Dennoch ist es für die Türkei maßgeblich den Bogen weder in die eine noch in die andere Richtung zu überspannen. Es ist eine Gratwanderung, die nach hinten losgehen kann. Staaten wägen die Kosten und Nutzen einer Partnerschaft ab. Sollte die Türkei im Zuge ihres neu-geschaffenen Neo-Osmanismus und Pan-Turkismus zu sehr an westliche oder russische Interessen kratzen, könnte es für den Staat am Bosporus zu einem gefährlichen Akt werden. Die neo-osmanischen Ambitionen – allen voran im Balkan und allgemein im europäischen Raum stoßen kaum auf Wohlwollen. Gleichzeitig beobachtet Russland mit einem Argwohn die türkische Aktivität in Nordsyrien, dem Kaukasus und Zentralasien. Zentralasien, wohin sich laut türkisch-nationalistischen Intellektuellen der große Turan erstrecken soll, ist vor allem auch für den chinesischen Einflussbereich wichtig.
Nicht unumstritten ist auch die türkische Präsenz innerhalb der arabischen Welt: Mit der fragwürdigen Allianz mit libyschen Gruppen hat die Türkei vor allem den ägyptischen Zorn auf sich vereint. Ägypten ist eine Regionalmacht mit einem starken Militärapparat, das die türkischen Interessen vor allem in Nordafrika konterkariert. Und auch sonst sind die Beziehungen zum Irak, einer Reihe arabischer Staaten, aber auch dem Iran und Israel stark angespannt. Dennoch haben die genannten Staaten untereinander schwierige Verhältnisse, was die Türkei gekonnt für sich zu nutzen weiß.
Die Appeasement-Politik gegenüber der Türkei ist dennoch keine Gesetzmäßigkeit, sondern ein Faktor, welcher vor allem innerhalb der EU und des NATO-Paktes für eine Zerrüttung sorgt.
Die Appeasement-Politik gegenüber der Türkei ist dennoch keine Gesetzmäßigkeit, sondern ein Faktor, welcher vor allem innerhalb der EU und des NATO-Paktes für eine Zerrüttung sorgt. Während zumeist ost- und nordeuropäische Staaten sowie Großbritannien die Türkei für einen unersetzbaren Partner halten, üben sich manche in einer Zurückhaltung oder opponieren offen dem türkischen Einfluss. Für viele europäische Staaten ist die Türkei nicht nur militärisch gegenüber Russland und dem Nahen Osten wichtig, sondern auch migrationspolitisch. So ist es manchen Staaten lieber die neo-osmanischen Aktivitäten vor den eigenen Toren in Kauf zu nehmen, anstatt den fragilen Flüchtlingsdeal platzen zu lassen. Innerhalb Europas haben sich auch ein Bündel an Türkei-skeptischen Staaten gebildet, die sich immer stärker von der Türkei distanzieren. Etwa die Niederlande und Österreich gehören neben Griechenland und Zypern zu den traditionell anti-türkischen Ländern und verfolgen eine dementsprechend konsequente Position. Österreich sticht sogar Zeit zu Zeit mit dem Vorstoß, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auch formal zu beenden. Auch Deutschland, das für eine pragmatische Außenpolitik bekannt ist, bezieht zeitweise Stellung gegenüber der Türkei, versucht aber das Verhältnis vor allem aufgrund des Flüchtlingsdeals nicht zu sehr zu beschädigen. Zu einem immer stärkeren Zerwürfnis kommt es zwischen Frankreich und der Türkei. Vor allem den Franzosen schmeckt die türkische Expansion im Mittelmeerraum, etwa in Libyen gar nicht. Während sich Frankreich immer stärker in der Einflusssphäre zurückgedrängt fühlt, versucht die Türkei den eigenen Einflussbereich zu festigen.
Aus der Vergangenheit lernen: Ein Warnsignal für Europa
Die türkischen Aktivitäten sind für das 21. Jahrhundert in der Schnelligkeit, Entschlossenheit und Aggressivität beispielslos. Die gefährliche Kombination aus einem türkisch geprägten Islamismus und nationalistischen Ideologien schafft einen unberechenbaren und vor allem unzuverlässigen Akteur im Nahen Osten, der den eigenen Wert zu wissen weiß und Partnerstaaten bewusst außenpolitisch zu erpressen versucht. Der türkische Balanceakt zwischen dem Osten und Westen und die fragilen Beziehungen zu nahezu allen Nachbarstaaten könnten dennoch mittel- und langfristig die türkischen Expansionspläne durchkreuzen und zu einem Verhängnis werden. Die Dauerwahlkampfstimmung und die innerstaatliche Schwäche zwischen die Führungsriege des Landes dazu eine immer radikalere und vor allem undiplomatische Rhetorik zu finden. Die Geschichte der Appeasement-Politik sollte dabei allen Regional- und Globalplayern ein Begriff sein und ein Warnsignal für die Zukunft. Die innereuropäische Staatssicherheit befindet sich nämlich nicht nur in Europa, sondern beginnt im Nahen Osten. Einzelne NATO- und EU-Staaten täten dabei gut den verlässlichen und kulturell, aber auch ideologisch näheren Bündnispartner Griechenland zu unterstützen, anstatt die türkische Machtpolitik zu dulden.