NATO-Beitritt: Wieso Österreich nicht Schweden ist
Die europäischen Staaten und insbesondere die NATO sind aus ihrem Winterschlaf erwacht und investieren wieder in das Militär. Der größte Initiator dieses Projektes ist dabei – unfreiwillig – der russische Präsident Wladimir Putin, der mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine die europäische Sicherheitsordnung auf den Kopf gestellt hat.
Wladimir Putin hat Europa aus dem sicherheitspolitischen Winterschlaf aufgeweckt
Ausgerechnet jetzt, in einer Zeitspanne, in der sich die europäischen Staaten in Sicherheit gewogen haben und mit sich selbst beschäftigt waren, fühlte sich Russland – laut Eigendarstellung – von der NATO bedroht. Dass diese Begründungen instrumentalisiert werden und fernab der politischen Realität sind, dürfte kein Novum sein: Denn ausgerechnet vor dem Angriff auf die Ukraine war die NATO in einer Selbstfindungsphase, die USA zog sich stärker aus dem europäischen Kontinent und dem Nahen Osten zurück und verlagerte den Fokus auf den Hauptkontrahenten, China. Russland, das wirtschaftlich auf einer Ebene mit Indonesien und Brasilien rangiert, der Rubel, der am Weltmarkt eine marginale Rolle spielt, war zumindest in den letzten Jahren für den „Westen“ kein Kontrahent.
Durch den Angriffskrieg vom 24. Februar hat Wladimir Putin nicht nur die, wenn auch labile, Sicherheitsarchitektur Europas auf den Kopf gestellt, sondern auch den sonst gespaltenen Westen geeint. Höhere Militärbudgets, stärkere Militärkooperationen stehen nahezu in allen westlichen Staaten auf der Tagesordnung. Interessant und relevant sind vor allem die erneuten Debatten in Nicht-NATO-Ländern über NATO-Mitgliedschaften. Denn viele europäische Staaten, die bis jetzt militärisch blockfrei waren, wiegen sich in sicherheitspolitischem Risiko: Die Neutralität könnten weniger wert sein als das Papier, worauf es steht. Der Angriffskrieg auf die Ukraine hat eines gezeigt: Das Budapester Memorandum von 1994 und die damit verbundenen Sicherheitsgarantien Russlands gegenüber der Ukraine (im Gegenzug gab die Ukraine das Atomwaffenarsenal auf) zeigen, dass sich Großmächte, in diesem Fall Russland, bei Bedarf über Verträge und Abkommen hinwegsetzen.
Durch den Angriffskrieg vom 24. Februar hat Wladimir Putin nicht nur die, wenn auch labile, Sicherheitsarchitektur auf den Kopf gestellt, sondern auch den sonst gespaltenen Westen geeint.
Am 18. Mai stellten schlussendlich sowohl Finnland als auch Schweden einen offiziellen NATO-Beitrittsantrag und sind somit die ersten Länder, die mit ihrer bisherigen Tradition der militärischen Neutralität brechen wollen. Das führte auch in Österreich zur erneuten Debatte über einen möglichen NATO-Beitritt. Abseits des Umstandes, dass in Österreich die Bevölkerung mehrheitlich gegen einen NATO-Beitritt und für den Beibehalt der militärischen Neutralität ist, müssen wir uns mit der Frage der realpolitischen Notwendigkeit eines NATO-Beitritts auseinandersetzen.
Österreich ist nicht Schweden oder Finnland
Zunächst gilt zu erwähnen, dass sowohl Finnland als auch Schweden nicht mit dem österreichischen Beispiel vergleichbar sind. Unabhängig des Umstandes, ob eine tatsächliche Drohung seitens Russland in Richtung Finnland oder Schweden ausgeht, lässt sich Folgendes festhalten: Finnland grenzt geografisch an Russland und sowohl Finnland als auch Schweden haben historisch mehr historische Konfliktpunkte mit Russland als das geschichtlich betrachtet oft russlandfreundliche Österreich. Die Sentimente in den Bevölkerungen sind grundunterschiedlich, die Wahrnehmung der Politiker anders. Das Neutralitätsargument ist in Österreich mentalitätsmäßig alleine schon aufgrund Wiens als Standort internationaler Organisationen stärker verankert als etwa in Schweden oder Finnland. Die Frage der Wahrnehmung unterscheidet sich natürlich von den realpolitischen Gegebenheiten: Denn Neutralitätsverträge sind nur so gut, wie die die Großmächte, die sich daran halten.
Denn Neutralitätsverträge sind nur so gut, wie die die Großmächte, die sich daran halten.
Die beiden Weltkriege haben trotz des vermeintlich zivilisatorischen Fortschrittes einleuchtend gezeigt, dass neutrale Staaten schneller und eher angegriffen werden als Staaten, die Teil einer militärischen Allianz sind. Obwohl das Argument für das Aufgeben des Neutralitätsstatus sprechen würde, lässt sich diese Parallele mit der aktuellen Situation Österreichs kaum ziehen: Denn Österreich ist trotz der formellen militärischen Neutralität seit 1995 de facto zumindest politisch und partiell auch militärisch nicht neutral. Der Beitritt in die EU hat das ohnehin schon westliche Österreich noch stärker in den Westen eingebettet.
Worauf in der politischen Debatte oft vergessen wird, ist der Umstand, dass die EU auch eine militärische Komponente hat und über effektive Sicherheitsmechanismen verfügt. Ein Krieg gegen ein nicht-NATO EU-Land würde trotz einer fehlenden Artikel 5 Äquivalente de facto die gesamte EU in einen Krieg verwickeln. Anders formuliert: Bei einem hypothetischen Angriff eines Drittstaats auf Österreich würde die gesamte EU faktisch Kriegspartei werden. Der zweite wesentliche Unterschied zu den beiden Weltkriegen und den Nordstaaten ist die geografische Lage Österreichs: Österreich ist von allen Seiten von NATO-Staaten umgeben und hat weder eine gemeinsame Grenze zu Russland noch zur Ukraine.
Entemotionalisierung der Debatte: Der NATO-Beitritt – eine Kosten-Nutzen-Frage
Die Frage einer jeden politischen Grundsatzentscheidung sollte eine Kosten-Nutzen-Überlegung sein. Umgemünzt auf den NATO-Beitritt stellt sich die Frage: Welche Nutzen ziehen wir von einer NATO-Mitgliedschaft und welche Kosten entstehen dadurch? Welche Alternativmöglichkeiten gibt es? Die Frage der Nutzen-Seite ist wie oben erörtert überschaubar, da Österreich auch ohne eine NATO-Mitgliedschaft in westliche Sicherheitsstrukturen bestens integriert ist und eng kooperiert. Eine NATO-Mitgliedschaft würde keine zusätzlich merklich bessere Garantie gewährleisten als jene Situation, in der sich Österreich gegenwärtig befindet. Ein NATO-Beitritt hat somit aufgrund der EU-Mitgliedschaft einerseits und der geografischen Lage andererseits keine nennenswerten realpolitischen Vorteile. Die Nachteile, die durch eine NATO-Mitgliedschaft entstehen könnten, sind zwar gegeben, sollten dennoch ebenso nicht überschätzt werden. Ein wesentlicher Nachteil könnte etwa der Rückzug internationaler Organisationen wie der UNO, OSZE oder IAEA oder OPEC aus Österreich bedeuten.
Die Einheit des Westens wird durch einen Beitritt oder Nicht-Beitritt Österreichs weder realpolitisch merklich stärker noch schwächer.
In beiden Fällen würde es sich verstärkt um Symbolwirkungen handeln, die einen positiven oder negativen Effekt auf das österreichische Image haben würden. Auch seitens der EU-NATO-Staaten sollte das Argument, Österreich würde isoliert werden, nicht überbewertet werden. Engere Kooperationen mit der NATO – ohne dabei die NATO-Mitgliedschaft zu beantragen – erlauben es Österreich trotz einer Nicht-Mitgliedschaft Teil der westlichen Sicherheitsarchitektur zu sein. Die Einheit des Westens wird durch einen Beitritt oder Nicht-Beitritt Österreichs weder realpolitisch merklich stärker noch schwächer.
Ein Grundargument für einen österreichischen Beitritt ist die Trittbrettfahrer-Problematik: Österreich würde von der NATO profitieren, ohne selbst Mitglied davon zu sein. Staaten können auch außerhalb der NATO einen merklichen Beitrag für die gemeinsame Sicherheit leisten, etwa durch eine Erhöhung des Militärbudgets, Auf- und Ausbau der europäischen Sicherheitsmechanismen und stärkere Kooperationen. Trittbrettfahrer ist nicht Österreich, sondern sind die EU-Staaten, die auch Teil der NATO sind.
Jahrelang haben führende EU-Staaten wie etwa Deutschland das Militär vernachlässigt, da man sich ja sowieso auf die Vereinigten Staaten verlassen könne. Genau dieses Trittbrettfahren hat die EU in ein vollkommenes Abhängigkeitsverhältnis von den Vereinigten Staaten und der Türkei gebracht. Denn die zwei mitgliedsstärksten Armeen innerhalb der NATO sind die türkische und amerikanische Armeen. Man habe die EU abhängig von amerikanischen Präsidenten und türkischen Autokraten gemacht. Die Türkei als sicherheitspolitischer Partner ist anhand der türkischen Außenpolitik ein Risiko auf Zeit. Zusätzlich hat die Präsidentschaft Trumps gezeigt, dass die Vereinigten Staaten sich nach Belieben aus Europa zurückziehen können.
Europäische Sicherheitspolitik muss europäisch sein
Die Grundausrichtung der europäischen Sicherheitspolitik muss auch tatsächlich eine europäische Sicherheitspolitik sein: Eine Kooperation mit den Vereinigten Staaten ist nicht nur von existenzieller Notwendigkeit, sondern auch faktisch unumgänglich. Das schließt aber den Ausbau einer europäischen Sicherheitsarchitektur, die im Zweifelsfall auch unabhängig operieren kann, nicht aus. Die massiven Investitionen in die Armeen zahlreicher europäischer Staaten sind ein richtiger Schritt und im Wesentlichen das, was die amerikanischen Partner vor wenigen Jahren gefordert haben: Eine Angleichung der Militärausgaben an 2% des BIP.
Vielmehr gilt: Die destruktiven und widersprüchlichen, teilweise gegen die Interessen des Westens gerichteten Aktionen der Türkei und Ungarns zeigen, dass eine NATO-Mitgliedschaft keine Garantie für eine klare Westausrichtung ist, während Staaten wie Schweiz und Österreich Teil der europäischen Wertegemeinschaft sind.
Die Debatte rund um den NATO-Beitritt sollte entemotionalisiert werden und kein Dogma darstellen: Sowohl überzeugte Transatlantiker als auch US-Skeptiker sollten bei allen Argumenten die nationalen Interessen, vor allem Sicherheitsinteressen Österreichs in den Vordergrund stellen. Feststeht dabei, dass eine Aufrüstung des Bundesheeres sowie eine engere Kooperation mit der NATO unumgänglich und wichtig ist, gleichzeitig aber ein NATO-Beitritt nicht notwendig und aus Gründen der gesellschaftlichen Unterstützung nicht möglich ist.
Der Weg hin zu einer stärkeren und einheitlicheren EU-Verteidigungspolitik ist ein langer, aber auf lange Sicht notwendiger. Die Vereinheitlichung der Waffensysteme, der Ausbau einer gemeinsamen Außenpolitik und engere Abstimmungen würden den Weg dazu ebnen.